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Beitrag vom 29.03.2023
Theresia Enzensberger - Auf See. Roman.
Helga Egetenmeier
Nach Norddeutschland und in die nahe Zukunft führt uns die Autorin und Journalistin Theresia Enzensberger bei ihrer literarischen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel und dem Neoliberalismus. Dort flieht...
...die siebzehnjährige Yada von einer künstlichen Insel in der Ostsee nach Berlin, um ihre Mutter zu suchen. In der Großstadt lässt die Autorin die junge Frau auf liebevoll gezeichnete Menschen treffen, die in finanzieller und emotionaler Abhängigkeit zueinander stehen.
Tochter Yada und die Flucht von ihrem Wohnort in der Ostsee
Theresia Enzensberger beginnt ihren Roman mit einem Rückblick der jugendlichen Yada auf ihr bisheriges Leben. Sie wurde als Kind von ihrem Vater auf eine Seestatt in der Ostsee gebracht, vorgeblich, um ihr das Überleben zu sichern in einer Welt, die vom Klimawandel bedroht ist: "Ich wusste nur, dass mein Vater, dieser aufrechte und anständige Mann, uns noch rechtzeitig gerettet hatte, ehe das deutsche Festland im Chaos versunken war." Während dieser vielen Jahre in der Isolation glaubt sie daran, dass die Trennung von ihrer Mutter nötig war. Doch da ihr Vater "ständig auf Reisen" ist und ihr gleichzeitig erklärt "wie gefährlich das Reisen war", wird sie misstrauisch. Als eine Besucherin der Insel und ihre erste Liebe, die Lügen ihres Vaters aufdeckt, flieht sie von dort.
Diesen dominanten Vater, der seine Tochter über viele Jahre belogen hat, beschreibt Enzensberger als einen unhinterfragbaren Machtapparat auf seiner Insel. Nur dort konnte er das Leben von Yada bestimmen und gleichzeitig die Bindung an ihre Mutter Helena verhindern.
Nach ihrer Flucht reist Yada nach Berlin, wo ihre Mutter leben soll. Dort irrt sie ein paar Tage umher, bevor sie bei den Wohnungslosen in ihrer Zeltstadt im Berliner Tiergarten Unterkunft und Unterstützung erhält. Als sie nach ein paar Wochen ihre Mutter findet, merken beide, dass es trotz aller Sehnsucht zueinander dauern wird, die verlorene Vertrautheit wieder aufzubauen.
Helena, reiche und berühmte Künstlerin in Berlin
Die Mutter, Helena, ist die zweite Hauptfigur des Romans. Die Autorin zeichnet sie als reiche rastlose Künstlerin, die im ersten Teil des Buches durch ein Berlin mit Partys und Kunstausstellungen zieht.
Die Künstlerin Helena nutzt Enzensberger dafür, um die Struktur und Ideologie von Sekten und die Einkommensverhältnisse von Künstler*innen zu diskutieren. Denn Helena ist reich, seit sie als Kunstprojekt eine Sekte gegründet hat. Kamilla, langjährige Freundin von Helena und ebenfalls Künstlerin, ist eine fortwährende Kritikerin ihres Sektenprojekts. Als Nebenfigur bringt sie dabei ebenso moralische Aspekte ein, wie Helenas Hausangestellte Sophie und deren achtjährige Tochter Mia. Diese finden in dem überteuerten gentrifizierten Berlin keine bezahlbare Wohnung, weshalb sie bei Helena einziehen dürfen. Das Verhältnis zwischen ihnen schwankt zwischen Nähe und Distanz und zwischen Freundschaft und Enttäuschung. Enzensberger gelingt hier eine feinfühlige Figurenzeichnung, die sich durch den ganzen Roman zieht und mit dem sie zeigt, dass aus einem hierarchischen Arbeitsverhältnis keine echte Freundschaft entstehen kann.
Wie bei Yada sind bei Helena die positiv belegten Figuren an ihrer Seite weiblich. Eine Ausnahme ist August, Helenas politisch progressiver Bruder. Er zeigt keine Ambitionen, sich patriarchalen Herrschaftsmethoden zu bedienen und entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einem Bindeglied zwischen Mutter und Tochter.
Die Archive: Eine Auseinandersetzung der Autorin mit dem Neoliberalismus
"Jedes Archiv speist sich aus anderen Archiven des Wissens" schreibt Enzensberger in ihrem mit "Lektüre" überschriebenen Epilog. Acht Kapitel mit dem Titel "Archiv" befinden sich als Tatsachenbericht im Buch und sind nicht in die Geschichte des Romans eingebunden. Sie habe darin ihre Recherchen zu gesellschaftspolitischen und historischen Besonderheiten zusammengefasst, so die Autorin, die bei ihrer Romanentwicklung eine Rolle spielten. In kurzen Kapiteln berichtet sie darin unter anderem über die Landerfindung Poyais, das Insel-Boot von Leicester Hemingway, die Entwicklung von Scientology und dem Neoliberalismus und die Ordnung in Pirat*innengesellschaften.
Ebenfalls in diesem Nachwort verweist sie auf die Quellen für ihre Hintergrundrecherchen. Für ihre Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ideengeschichte bezieht sie sich unter anderem auf Naomi Kleins "Die Schock-Strategie".
"Auf die Idee, Sonderwirtschaftszonen auch als politische Lebensräume zu begreifen" sei sie durch die Lektüre von Keller Easterlings Buch "Extrastatecraft: The Power of Infrastructure Space" gekommen.
Neben weiterführenden Hinweisen im Buch hat Enzensberger auf der Webseite des Hanser-Verlages Hintergrundinformationen zu ihrem Roman sowie Hinweise auf Dokumentationen zusammengestellt, mit denen sie auf "die realen Hintergründe von ´Auf See´" hinweist. Dazu gehört, neben den Forschungsfeldern von Keller Easterling und Dr. Charmaine Chua um die "Bewegung Seasteading", eine Auseinandersetzung zu "Neoliberalism´s World Order", eine Mini-Doku zu "Doomsday Prepper", ein Vortrag zu "Maritime Temporalities & Capitalist Development" von Liam Campling und Alejandro Colás, wie ein Videovortrag von Sandra Bartoli an der ETH Zürich über die politische, gesellschaftliche, ökologische und stadtplanerische Geschichte des Berliner Tiergartens. Ebenso verlinkt sie auf den BBC-Dokumentarfilm über Ada Lovelace, die erste bekannte Programmiererin in der Geschichte.
AVIVA-Tipp: Theresia Enzensberger erzählt vor dem Hintergrund der Klimakrise und den neoliberalen gesellschaftlichen Entwicklungen eine Mutter-Tochter-Geschichte zwischen einer künstlichen Insel in der Ostsee, einer zu teuren Wohnung in Berlin und einer Behausung in einer Zeltstadt im Tiergarten. Dabei gelingt ihr, trotz der Schwere des Themas, durch ihre empathischen Figurenzeichnungen ein leicht und flüssig lesbarer Roman.
Zur Autorin: Theresia Enzensberger, geboren 1986 als Tochter der Redakteurin und Autorin Katharina Enzensberger (geb. Bonitz, Pseudonym "Katharina Kaever") und des Lyrikers und Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger, studierte Film und Filmwissenschaft am Bard College in New York. Sie arbeitet als Journalistin unter anderem für die FAZ, FAS, ZEIT Online, Krautreporter und Monopol. 2014 gründete sie in Berlin das preisgekrönte BLOCK Magazin als Crowdfunding-Projekt. 2017 erschien ihr erster Roman "Blaupause", der mit der Alfred-Döblin-Medaille ausgezeichnet wurde.
Theresia Enzensberger
Auf See
Hanser, August 2022
Hardcover, gebunden, 272 Seiten
ISBN-13: 9783446273979
24,00 Euro
Mehr zum Buch und Lesungstermine unter: www.hanser-literaturverlage.de
Mehr zum Thema:
kellereasterling.com
Die US-amerikanische Architektin, Stadtsoziologin, Autorin und Professorin an der Yale Universität Keller Easterling setzt sich, wie in ihrem Buch "Extrastatecraft: The Power of Infrastructure Space" (2014), auf das sich Theresia Enzensberger bezieht, mit globalen Infrastruktur-Netzwerken als Mittel der Politik auseinander.
www.charmainechua.com
Dr. Charmaine Chua ist Assistenzprofessorin am Department of Global Studies der University of California in Santa Barbara. In ihren Forschungen untersucht sie die politische Seite der globalen Zirkulation und konzentriert sich dabei auf die kritische Untersuchung logistischer Systeme.
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Theresia Enzensberger - Blaupause
In ihrem Debütroman zeigt die Journalistin und Autorin Theresia Enzensberger anhand der fiktiven Figur Luise Schilling, dass am Bauhaus Gleichberechtigung und Entfaltungsmöglichkeiten für Frauen nur auf dem Papier bestanden. Auch die progressiven Bauhauslehrer waren in ihrem Rollenverständnis alles andere als modern. Frauen sollten deren Meinung nach Weben und nicht Architektur studieren. (2017)